Wenn im nächsten Jahr die neueste Generation der Corvette nach Deutschland kommt, wird sie von nostalgischem Flair umweht. Dafür sorgt der Beiname „Stingray“ aus den Sechzigern. An die amerikanische Sportwagen-Ikone werden aber auch hohe Erwartungen gerichtet sein. Welche dies sind, zeigte unser Praxistest mit dem finalen Sondermodell „427“ Cabrio.
Es gibt nur wenige Sportwagen, denen man so ausgeprägte Macho-Gene zurechnen würde, und dennoch ist dem Namen der weibliche Artikel vorangestellt: Die Corvette gilt seit sechs Jahrzehnten als der Inbegriff des amerikanischen Sportwagens. Kurz vor der Präsentation der siebten Baureihe hat General Motors noch ein Sondermodell aufgelegt, dessen Einzigartigkeit in drei Ziffern gegossen ist: 427. Was auch als limitierte Stückzahl gelten könnte, hat schlichte technische Gründe. Der Hubraum des stolzen Achtzylinders beträgt 427 Kubik-Inch – zu gut deutsch: satte sieben Liter.
Als gäbe es keine Verbrauchsdebatte und kein Downsizing, keine CO2-Vorschriften und keine endlichen Ölvorräte – hier wird aus dem Vollen geschöpft. Mit Realitätsverweigerung hat das nichts zu tun, das muss einfach so sein. Der V8 gehört zur Corvette wie der Colt zu John Wayne und Laurel zu Hardy. Der Motor ist so gewaltig wie unkompliziert: Zweiventil-Technik, kein Turbo, keine Direkteinspritzung, kein Schnickschnack, ein Sauger mit 512 ehrlichen PS.
Die weiteren Eckdaten unseres in der Cabrio-Version gefahrenen Testwagens: 637 Newtonmeter Drehmoment bei 4800 Umdrehungen, Spurt von Null auf Hundert in 4,2 Sekunden, Höchstgeschwindigkeit 307 km/h. Die reichliche Verwendung von Kohlefaser-Verbundwerkstoff, zum Beispiel bei der Motorhaube, drückt Leistungsgewicht auf 3,1 Kilogramm je PS. Zum Vergleich: Der noch um 25 PS stärkere Mercedes SL 63 AMG liegt bei knapp 3,5 kg/PS. Das Modell „427“ ist ausschließlich mit manuellem Sechs-Gang-Getriebe erhältlich.
In jeder Generation war und ist die Corvette ein faszinierender Sportwagen, hinreißende Optik, kraftvoller Motor und – zumindest hierzulande – von anhaltender Exklusivität: Zwischen Januar und Ende Juli wurde zwischen Flensburg und Garmisch gerade mal 47 Exemplare neu zugelassen. Selbst einen Ferrari 458 trifft man fünf Mal häufiger.
Zwar bietet die Corvette schon länger als andere Kunststoff-Karosserie, Transaxle-Antrieb oder Head-Up-Display, aber die Fans in aller Welt sammelte sie nicht mit technischen Kabinett-Stückchen. Es ist der Charme des Urtümlichen, in manchen Fällen auch den Überkommenen, wie der Testwagen an einigen Details offenbarte. Die Vette des Jahrgangs 2013 zeigt auch, an welchen Stellen in der nächsten Generation nachgelegt werden sollte, will man im Vergleich mit den Super-Sportwagen anderer Hersteller nicht ins Hintertreffen geraten.
Für ein Cabrio gelten in dieser Hinsicht noch andere Anforderungen als für Coupés. Das Stoffdach soll auf Knopfdruck zügig öffnen und schließen, möglichst bis zu einem Fahrtempo von 40 oder 50 km/h. Nicht mehr zeitgemäß ist deshalb, was bislang vom Fahrer der Corvette verlangt wird. Drei Voraussetzungen müssen erfüllt sein, sonst bewegt sich die Segeltuchhaube keinen Millimeter: Stillstand des Fahrzeugs, angezogene Handbremse und manuelle Entriegelung des Daches mit dem Knebel oberhalb des Innenspiegels. Ist das alles erledigt, verschwindet das Dach elektrisch binnen 16 Sekunden hinter den Sitzen, bzw. ist nach 18 Sekunden wieder zurück in Position, wo der Fahrer den Sicherungshaken einrasten lassen kann. Das sollte beim nächsten Corvette-Cabrio einfacher zu handhaben sein.
Niemand wird ernsthaft bestreiten wollen, dass eine Corvette ein wirklich heißes Gefährt ist. Das kann man sogar mit dem Thermometer messen. Auch ohne hochsommerliche Temperaturen heizen sich unterwegs Bereiche erheblich auf, wo man es gar nicht vermutet. Schon nach einer kurzen Strecke konnte man beim Testwagen an der Teppichverkleidung des Mitteltunnels 54 Grad Celsius messen, in der Ablagebox zwischen den Sitzen mehr als 40 Grad, die gleiche Größenordnung wurde am Boden des Gepäckabteils angetroffen. Also bitte keine leicht verderbliche Ware dort transportieren. Bauartbedingt liegt übrigens der Zugang zum Gepäckfach oberhalb von 93 Zentimetern, dafür ist die Ladeluke aber 1,43 Meter breit und entsprechend aufnahmewillig. 295 Liter Volumen stehen maximal zur Verfügung. Erschütternd gering ist die erlaubte Zuladung. Zwei schwere Jungs können die Fahrt an den Rand der Illegalität bringen.
Auf ungewohnte Weise funktioniert die Einstellung der perfekten Sitz- und Lenkradposition. Während die Längsverstellung beim Sitz mechanisch und die Höhenverstellung elektrisch vorgenommen werden, ist es beim Lenkrad genau umgekehrt. Die Ledersitze sind sehr bequem, ihre Seitenstabilität lädt zu mutigem Kurventempo ein.
Geweckt wird der mächtige Motor mittels Kippschalter, meldet sich mit kurzem Fauchen, um dann unterschwellig brabbelnd seine Leistungsbereitschaft anzukündigen. Auch wenn große, gut ablesbare Rundinstrumente das Wichtigste mitteilen, es ist nicht zu übersehen, dass Cockpitgestaltung, Bedienkonzept und Navigationssystem nach einem konsequenten Update verlangen. Den Drehschalter für die Fahrwerkseinstellung auf der Mittelkonsole kann man getrost übersehen. Der fühlbare Unterschied zwischen Komfort- bzw. Sporteinstellung ist minimal, dafür sorgen schon die serienmäßigen Michelin Pilot Sport-Walzen, die vorn einen 30er- und hinten sogar nur einen 25er-Querschnitt haben.
Weil die Federungswirkung der Reifen gegen Null tendiert, müssen allein die Magnetic-Ride-Dämpfer die Karosse in der Balance halten. Elektrisch aktiviert reagieren die Metallpartikel im Dämpferöl im Millisekundenbereich und passen die Fahrwerkshärte an. Die perfekte Gewichtsverteilung macht das Handling des Autos bequem, doch es fehlt bei schnellen Richtungswechseln die Unmittelbarkeit in der Präzision. Die Gewissheit, sich auf der Autobahn nicht von jedem hergefahrenen Porsche oder Maserati von der linken Spur schubsen lassen zu müssen, ist zwar beruhigend, doch ihrem Wesen nach ist die Corvette eher ein Cruiser, der nicht dreimal am Tag sein Potenzial unter Beweis stellen muss.
Nur 1300 Kurbelwellen-Umdrehungen reichen aus, um mit 100 km/h dahin zu gleiten, bei 200 km/h müssen es nicht mehr als 2500 sein. Das ist die Form von Gelassenheit, wie die Corvette sie zelebrieren lässt. Und in jeder 80er-Zone braucht man überhaupt gar kein Gas mehr zu geben, da schnurrt der Bolide im Leerlauf durch. Kein Wunder folglich, dass man längere Ausfahrten zuverlässig mit 11 oder 12 Litern Durchschnittsverbrauch kalkulieren kann. Ein größerer Kurzstreckenanteil sorgte in diesem Test für 14,3 Liter in der Endabrechnung. 69 Liter Tankvolumen sind unabhängig von der Fahrweise für ein Sieben-Liter-Monster aber etwas knapp bemessen. Da sollte die nächste Corvette einen größeren Vorrat anbieten.
Zu Recht schwärmen Autofahrer vom unvergleichlichen Sound eines V8, der egal in welchem Fabrikat großen Anteil an der Emotionalität des Fahrerlebnisses hat. An Klangfülle mangelt es natürlich auch der Corvette nicht, schade nur, dass man sie dafür hochtourig fahren muss. Erst ab 3000 Umdrehungen werden die akustischen Schleusen voll geöffnet und das Achtzylinder-Kraftwerk bollert und röhrt, dass es eine Freude ist. Unterhalb dieses Schwellenwerts ist man erstaunlich dezent unterwegs. Kurz und trocken rasten die Gänge ein, zum Glück ist die Kupplung nicht so beinhart, dass im Stau ein Knieschaden droht. Niemand rechnet bei Chevrolet damit, dass sich jemand die Fahrfreude in der offenen Corvette durch etwas Zugluft vermiesen lässt. Deshalb ist ein Windschott hinter den Sitzen auch gar nicht vorgesehen.
Obacht beim Abstellen! Will man am nächsten Morgen ungetrübte Fahrfreude erleben, den Wagen nur mit sorgfältig eingelegtem Rückwärtsgang parken. Andernfalls bleibt die Bordelektrik aktiv und saugt unverdrossen der Batterie den Saft aus. Laut Hersteller sei das konstruktionsbedingt und hänge mit dem elektronischen Zündschloss zusammen. Immerhin gibt es im Display eine Erinnerung an diese Eigenheit, aber die kann nach nervtötender Parkplatzsuche in der Großstadt auch mal übersehen werden. Vielleicht bekommt die neue Vette ja eine elektrische Parkbremse, die sich automatisch aktiviert. Dann verschwände auch der antiquierte Handbremshebel aus dem Innenraum. Um das Heck zu schneller Seitwärtsbewegung zu verlassen, war er ohnehin nicht nötig, da langt ein kräftiger Gasstoß bei deaktiviertem ESP.
Fazit: Nur Massenautos müssen perfekt sein, ein Klassiker kann sich Schwächen leisten. So ist das auch bei der Corvette, deren Sonderstellung unter den Sportwagen von unübersehbaren Eigenheiten begleitet ist, die man anderen Autos wohl nicht so leicht verzeihen würde. Der Druck im Kreuz bleibt phänomenal, Adrenalin-Ausschüttung ist garantiert. Was noch für den Ami-Schlitten spricht, ist der Preis. 100 000 Euro sind zwar viel Geld, aber was sonst auf dem 500-PS-Plus-Sektor angeboten wird, ist dafür bei Weitem nicht zu haben. Und wenn man sich aus Bowling Green, Kentucky, ein Urlaubssouvenir mitbringen will, zahlt man beim dortigen Händler sogar nur 77 000 Dollar. (ampnet/afb)
Daten Chevrolet Corvette 427
Länge x Breite x Höhe in m: 4,46 x 1,93 x 1,25
Radstand in m: 2,69
Motor: V8-Benziner, 7011 ccm, Sauger
Leistung: 377 kW / 512 PS bei 6300 U/min
Maximales Drehmoment: 637 Nm bei 4800 U/min
Höchstgeschwindigkeit: 307 km/h
Beschleunigung 0 auf 100 km/h: 4,2 s
Leergewicht / Zuladung: 1606 kg / 159 kg
Räder / Reifen: vorn 9,5Jx18; 285/30 ZR 19 – hinten: 12Jx19; 335/25 ZR 20
Wendekreis: 12,0 m
Verbrauch (Schnitt nach EU-Norm): 13,8 l / 100 km
Kohlendioxid pro Kilometer: 325 g
Gepäckraumvolumen: 420 l
Basispreis: 100.750 Euro